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Interview ¶:
Magistrale Rezepturen
im Widerstreit der Meinungen: Anachronismus
oder unverzichtbare Ergänzung des therapeutischen Spektrums? Magistrale
Rezepturen und die sie verordnenden Dermatologen stehen von vielen Seiten unter
Druck. Für Aufsehen sorgte 1997 eine Studie unter Führung des Leiters der Universitätsklinik
Prof. Peter Altmeyer, die auf Qualitätsmängel aufmerksam machte. Mit den anhaltend
rückläufigen Verordnungen unter Budgetdruck mehren sich auch die kritischen Stimmen
aus den Reihen der Dermatika-Hersteller, die einen nach ihrer Einschätzung zu
hohen Anteil von magistral rezeptierten Verordnungen beklagen. Der Deutsche Dermatologe
hat drei profilierte Vertreter ihres Fachs zu einer Debatte der aktuellen Streitfragen
eingeladen. Der Karlsruher Hautklinikleiter Prof. Max Gloor, der bei Stiefel Laboratorium
tätige Apotheker Dr. Hans W. Reinhardt, und sein Fachkollege Dr. Holger Reimann
vom Neuen Rezeptur-Formularium stehen Rede und Antwort. ?
Magistrale Rezepturen erfreuen sich bei Dermatologen einer hohen
Beliebtheit. Der Marktanteil am Gesamtumsatz der Arzneimittelverordnungen betrug
nach Angaben des IMS in Frankfurt zuletzt bei den Dermatologen rund 3%. Wird in
Deutschland zu viel magistral rezeptiert? Gloor:
Ich glaube nicht, dass in Deutschland zu viel magistral rezeptiert wird. Was wahrscheinlich
ein Kritikpunkt ist, ist, dass zu wenig standardisierte Rezepturen verwendet werden
und zu viel individuell rezeptiert wird.
Prof. Dr. Max Gloor, Karlsruhe Reimann:
Der vor Ort mit der Rezeptur befasste Apotheker neigt hier unter allein betriebswirtschaftlichen
Aspekten manchmal zu einem Ja. Er weiß aber auch, wie zentral die Arzneimittelherstellung
im Auftrag zur ordnungsgemäßen Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln und
damit im apothekerlichen Selbstverständnis liegt. Prozentuale Anteile unterscheiden
sich in unterschiedlichen Segmenten ganz erheblich und sind in einigen Fällen
unverständlich hoch. Aber das muss differenziert gesehen werden. Auf die pharmazeutische
Qualität und die reibungslose Belieferung wirkt sich ein lebhafter Rezepturbetrieb
in Apotheken sicherlich günstig aus. Schließlich steckt hier eine ganz erhebliche
fachliche und logistische Leistung dahinter, von der u.a. auch die Routine des
pharmazeutischen Personals und die Vorlieferanten von Grundstoffen und Packmitteln
betroffen sind. Die magistrale Rezeptur als nur noch seltener Ausnahmefall würde
zu spezifischen Problemen führen, wie wir sie zum Teil außerhalb der Dermatika-Rezepturen
kennen.
Dr. Holger Reimann, Eschborn Reinhardt:
Der Anteil von Rezepturen an topischen Verordnungen beträgt sogar über 50%. Das
entspricht über 10 Millionen verordneter Rezepturen pro Jahr allein von Dermatologen
(insgesamt sind es mehr als 15 Millionen), wie eine Studie der Universität Bochum
zusammen mit den Betriebskrankenkassen und die Analyse von IMS-Daten gezeigt haben.
Dies ist eindeutig zu viel, da auch von Dermatologen selbst darauf hingewiesen
wird, dass nur ein geringer Prozentsatz (weniger als 25%) dieser Rezepturen standardisiert
ist bezüglich Zusammensetzung als auch Herstellung in der Apotheke. Selbst wenn
davon nur 1% problematisch sind, bedeutet dies, dass pro Jahr in Deutschland ca.
100.000 bedenkliche Arzneimittel an Patienten abgegeben werden und der Arzt damit
möglicherweise im Konflikt mit dem Arzneimittelgesetz steht. Von dem großen Prozentsatz
nicht standardisierter Rezepturen existieren keinerlei Daten zur Qualität. Über
deren Sicherheit können daher nur Vermutungen geäußert werden, die für eine wirkliche
Qualitätsbeurteilung nicht ausreichen. 
Dr. Hans W. Reinhardt, Offenbach

Quelle: Der Deutsche Dermatologe 9 (2000) 607
Statistische
Angaben zu den magistral rezeptierten Verordnungen sind rar. Immerhin soviel ist
bekannt: Die Magistralrezepturen der Dermatologen machen den Löwenanteil
aller magistral rezeptierten Arzneimittel in Deutschland aus. Das zeigt das neuste
Zahlenmaterial des Instituts für Medizinstatistik in Frankfurt. Von den zuletzt
insgesamt 14.944 magistralen Verordnungen entfielen 9.729 auf Rezepte aus der
Hautarztpraxis. Insgesamt ist für 1999 erstmals wieder ein leicht rückläufiger
Trend bei den Rezepturen zu verzeichnen. Allerdings ist dieser Rückgang bei
den Dermatologen weniger ausgeprägt als bei allen ärztlichen Gruppen.
| Gloor: Die Annahme,
dass 1% aller Rezepturen bedenklich seien, hat keinen Tatsachenhintergrund, der
nachvollziehbar ist. Zumal ist nicht klar, was der Begriff "bedenklich" in diesem
Zusammenhang besagen soll. Auch die Therapie mit Spezialitäten ist nicht selten
bedenklich. So hat die Untersuchung der Bochumer Hautklinik ergeben, dass unter
den verordneten Spezialitäten 2,8% Gentamicin enthalten. Im letzten Jahr wurden
ca. 420.000 Packungen Gentamicin/Kortikosteroid-Kombinationen verkauft. Gentamicin
soll nach der Monografie nur kurzzeitig bei nachgewiesener Erregersensibilität
und fehlenden therapeutischen Alternativen verordnet werden. Dies ist mit Sicherheit
nur bei einem winzigen Teil der Verordnungen der Fall. Insbesondere nicht bei
den Gentamicin/ Steroid-Kombinationen. Ein weiteres Beispiel ist Clobetasolpropionat,
das im Vorjahr 362.800-mal verordnet wurde. Eine Größenordnung, die ebenfalls
nicht zu rechtfertigen ist. Obsolete Wirkstoffe, wie Neomycin, Holzteere, Wacholderteer
oder quecksilberhaltige Zubereitungen werden nach wie vor von der Industrie in
Spezialitäten vertrieben und auch verordnet. Wenn es stimmt, dass 100.000 bedenkliche
Magistralrezepturen verordnet werden, so steht dem ein Vielfaches an bedenklichen
Spezailitätenrezepturen gegenüber. ? Woher
rührt die hohe Nachfrage bei den magistralen Rezepturen? Reimann:
Von Apothekenseite her jedenfalls nicht; dem Pharmazeuten stehen Salben und Cremes
nicht näher als Kapseln, Säfte oder Augentropfen. Die Apotheker reagieren hier
nur, müssen sich aber in der Praxis mit den ärztlichen Motiven u. a. dann auseinandersetzen,
wenn Unklarheiten oder sonstige Schwierigkeiten eine Rücksprache erfordern. Die
Fixierung des Rezepturpreises durch die Arzneimittelpreisverordnung trägt zur
Nachfrage bei, der Vergleich mit anderen Fachdisziplinen zeigt jedoch, dass es
auch spezifisch dermatologische Motive geben muss. Gloor:
Die hohe Nachfrage rührt daher, dass sehr viele therapeutische Optionen des Hautarztes
mit Spezialitäten nicht optimal ausgefüllt werden können. So fehlen eine Reihe
von Wirkstoffen überhaupt in Spezialitäten, andere Wirkstoffe sind oft nicht in
der geeigneten Grundlage zur Verfügung, z.T. fehlen auch geeignete Wirkstoffkombinationen.
Reinhardt: Der Wunsch, dem Patienten eine "individuelle
Therapie" anzubieten, ist sehr groß unter den niedergelassenen Dermatologen. Der
Patient soll nicht das Gefühl haben, er bekommt etwas "von der Stange", sondern
vielmehr, dass er eine für seine Bedürfnisse maßgeschneiderte Therapie erhält.
? Können magistrale Rezepturen den Dermatologen
unter dem Druck der Arzneimittelbudgets helfen, Kosten einzusparen? Reimann:
Grundsätzlich schon, aber längst nicht jede rezepturmäßige Verschreibung
ist hierzu geeignet. In diesem Zusammenhang suchen Dermatologen noch viel zu selten
vorab das Gespräch mit dem Apotheker, der überzogene Erwartungen korrigieren kann.
Reinhardt: Kosteneinsparungen durch magistrale Rezepturen
sind nur noch selten möglich. Im Zeitalter der überwiegenden Festpreisbindung
der meisten Arzneistoffe macht es wenig Sinn, preislich günstige Arzneistoffe
wie Clotrimazol, BPO, Erythromycin oder andere rezepturmäßig zu verarbeiten. Auch
im Zuge der angehobenen Honorare für die Herstellung seitens des Apothekers landet
man häufig bei höheren Preisen als beim Fertigprodukt. Gloor:
Meines Erachtens ist es nicht richtig, unter finanziellen Gesichtspunkten Magistralrezepturen
zu verordnen. Zumindest gilt dies für die individuelle Magistralrezeptur, bei
der nicht unerhebliche Risiken bestehen, eine minderwertige Qualität zu verordnen.
Eher können finanzielle Gesichtspunkte ein Argument sein, standardisierte Magistralrezepturen,
z.B. nach dem NRF zu verordnen, bei denen die galenische Qualität weitgehend der
von Spezialitäten entspricht. ? Welche therapeutischen
Vorteile bieten individuell rezeptierte Arzneimittel dem Hautarzt? Gloor:
Wie bereits gesagt, stehen verschiedene Wirkstoffe überhaupt nicht für Spezialitäten
zur Verfügung. Teilweise fehlen auch geeignete Wirkstoffkombinationen, vor allem
aber fehlen oft geeignete Grundlagen mit den notwendigen Wirkstoffen. Erinnert
sei in diesem Zusammenhang an die Neurodermitis atopica mit ihren differenzierten
Voraussetzungen an die Grundlage. Darüber hinaus bietet die Magistralrezeptur
noch andere Vorteile. So vermag der Dermatologe viel besser die Art des Arzneimittels
zu übersehen, als dies bei Spezialitäten der Fall ist. Bei letzteren wird nur
eine qualitative und keine quantitative Angabe über den Inhalt gemacht. Oft ist
die Zusammensetzung derartig kompliziert, dass der Dermatologe sich schwer einen
Reim darauf machen kann, worum es sich eigentlich handelt. Eine qualifizierte
dermatologische Grundlagentherapie kann man aber schwerlich durchführen, wenn
man nicht einmal weiß, ob man es mit einer W/O- oder mit einer O/W-Emulsion zu
tun hat, wenn man keine Vorstellungen über den Wassergehalt einer Emulsion hat
und wenn man beispielsweise bei Moisturizern, z.B. bei Glyzerin keine Vorstellung
darüber hat, ob 1 oder 10% enthalten sind. Die Therapie mit Magistralrezepturen
erlaubt eine viel bessere Beurteilung des Vehikels, die standardisierten Rezepturen
des NRF sind relativ einfach und überschaubar zusammengesetzt. Der Dermatologe
weiß, was er tut und hat damit die Möglichkeit zu einer sehr viel differenzierteren
und bewussteren Grundlagentherapie. Es ergeben sich auch noch andere
Vorteile, etwa: die Möglichkeit, die Wirkstoffkonzentration zu variieren. Dies
ist in großem Umfang beispielsweise bei Dermatokortikosteroiden der Fall, bei
denen ein Unterschied in der Wirkstoffpenetration je nach Körperstelle um den
Faktor 1:300 besteht. Außerdem liegen erhebliche Unterschiede in der Wirkstoffpenetration
in Abhängigkeit von der Akuität des Erkrankungsbildes vor. Diesen individuellen
Voraussetzungen der Therapie kann der Dermatologe mithilfe der Magistralrezeptur
viel eher entsprechen, als mit der Spezialitätentherapie, bei der sich die Wirkstoffkonzentration
auf eine oder allenfalls auf zwei beschränkt. Reimann:
Besonders bei chemisch instabilen Stoffen hat die Rezeptur Vorteile, wenn sie
bei Bedarf frisch hergestellt, sofort angewendet und alsbald aufgebraucht wird.
Durch Verzicht auf weitergehende Stabilitätsforderungen - im Einzelfall auch an
die mikrobiologische Stabilität - können sehr leicht überschaubare und optimal
verträgliche Rezepturformeln vorgegeben werden. Bei Verwendung bekannter Rezepturgrundlagen
entfällt das Überprüfen der mit dem Arzneimittel angewendeten Bestandteile jeweils
aufs Neue. Durch individuelle Kompositionen können unerwünschte Bestandteile gezielt
vermieden werden. Schließlich bietet die Rezeptur die Möglichkeit zu Arzneimittelkombinationen,
ohne mehrere Zubereitungen übereinander oder zeitlich versetzt anwenden zu müssen. Gloor:
Auch in anderer Hinsicht bietet die Magistralrezeptur Vorteile. So kann
die Packungsgröße beliebig bestimmt werden. Auch dies ist ein wichtiger Gesichtspunkt,
denn bei manchen Indikationen, beispielsweise beim Lidekzem, wird außerordentlich
wenig von dem Externum verbraucht. Wenn dieses Externum nur in Mengen von 10 oder
gar 20 g zur Verfügung steht, kann der Dermatologe damit rechnen, dass der Patient
das betreffende Externum über Jahre verwendet. Vielleicht auch zu einem Zeitpunkt,
zu dem es längst verfallen und unwirksam ist. Außerdem begünstigt dies Steroidnebenwirkungen,
wobei an das Beispiel des Lidekzemes oder auch von Peniserkrankungen erinnert
sei. Reinhardt: Die Magistralrezeptur bietet in ausgewählten
Fällen sicherlich therapeutische Vorteile für den Hautarzt. Und zwar dann, wenn
der entsprechende Arzneistoff oder die gewünschte Grundlage nicht als Fertigprodukt
zur Verfügung stehen. Das Zusammenfügen von Wirkstoffen, die in dieser Kombination
als Fertigprodukt nicht verfügbar sind, scheint auf den ersten Blick einen Vorteil
darzustellen. Ganz schwierig in diesen Fällen ist aber die Beurteilung der Qualität
bzw. Haltbarkeit. Kombinationen sollten nur dann verordnet werden, wenn gesicherte
Erkenntnisse über die Qualität vorliegen. Es sollten außerdem nie mehr als zwei
Wirkstoffe enthalten sein. ? Wann sind
magistrale Rezepturen indiziert, in welchen Fallen ist dem Fertigarzneimittel
der Vorzug zu geben? Reinhardt: Fertigarzneimittel
immer dann, wenn der gewünschte Wirkstoff in einem solchen verfügbar ist. Rezeptur
nur, wenn Arzneistoff oder erforderliche Grundlage nicht verfügbar sind (z.B.
Metronidazol) und in speziellen Ausnahmefällen. Gloor:
Die Verordnung von Spezialitäten bietet in zahlreichen Fällen Vorteile,
da die galenische Qualität und Stabilität der Rezeptur in aller Regel einwandfrei
ist. Die Zubereitung ist in den meisten Fällen klinisch geprüft, und es liegen
Wirkungsnachweise vor, die allerdings besonders bei Altzulassungen keineswegs
immer überzeugen. Bedauerlicherweise gibt es noch eine Fülle von Altzulassungen,
die wissenschaftlichen Grundsätzen der Verordnung Hohn sprechen. So engt die Monografie
des ehemaligen Bundesgesundheitsamtes die Verordnung von Gentamicin auf Fälle
ein, bei denen der Nachweis einer Sensibilität des Erregers erbracht ist und bei
denen Alternativen für die Therapie mit Gentamicin nicht vorhanden sind. Trotzdem
gibt es immer noch Dermatokortikosteroid/Gentamicin-Kombinationen, bei deren Verordnung
so viel wie nie auf diese Grundsätze Bezug genommen wird. Die Magistralrezeptur
sollte nur dann zur Anwendung kommen, wenn es sachliche Gründe dafür gibt, sie
Spezialitäten vorzuziehen. Reimann: Aus den therapeutischen
Vorteilen lassen sich - unter Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit, den pharmazeutischen
Grenzen der Arzneimittelherstellung in der Apotheke und Spezifika im Arzt-Patienten-Verhältnis
- Domänen der Rezeptur herleiten. Tendenziell sind dies von der Norm abweichende
Spezialfälle: im Arzneistoff nach Art und Menge, in der Art der Grundlage oder
in der Verordnungsmenge. Ohne triftigen Grund sollten in direkter Konkurrenzsituation
Fertigarzneimittel bevorzugt werden, wenn also keine therapeutischen Vorteile
für die Rezeptur sprechen. Dies gilt insbesondere bei pharmazeutisch nicht standardisierten
Individualrezepturen. Apotheker sollten den Arzt zumindest dann offen
informieren, wenn die Einhaltung der pharmazeutischen Qualität fraglich ist.
? Reicht das Angebot an Fertigdermatika, den
wachsenden Anforderungen an eine effiziente medizinische Versorgung gerecht zu
werden? Reinhardt: Bis auf wenige Ausnahmen dürfte
das Kontigent an Fertigarzneimitteln ausreichen. Hinweise hierfür liefern z.B.
Frankreich, UK und die USA, wo die Rezeptur überhaupt keine Rolle spielt und die
Ärzte mit wenigen Ausnahmen mit den zur Verfügung stehenden Fertigdermatika auskommen.
In Frankreich wurde auf Initiative der Dermatologen bereits 1989 die Zahl der
Rezepturen durch weitgehende Streichung der Erstattung massiv eingeschränkt, um
Gefahren wegen mangelnder Qualität und Schaden am eigenen Image zu vermeiden.
Gloor: Die Verhältnisse in anderen Ländern sind teils
nicht vergleichbar, weil dort Dermatologen vorwiegend konsiliarisch tätig sind.
Peinlich finde ich, wenn sich Industrievertrter, die den dermatologischen Alltag
nicht kennen, ein Urteil darüber anmaßen, inwieweit die Bedürfnisse des Dermatologen
und seiner Patienten durch Spezialitäten gedeckt werden können. Mit Sicherheit
reicht das Angebot an Fertigdermatika nicht aus, den wachsenden Anforderungen
an die effiziente medizinische Versorgung gerecht zu werden. Das Zulassungswesen
ist derartig schwerfällig, dass es Jahre braucht, um neue Erkenntnisse der Pharmakologie
in die praktische Therapie umzusetzen. Darüber hinaus sind wirtschaftliche Gründe
in der Industrie dafür maßgebend, Wirkstoffe, Wirkstoffkombinationen und bestimmte
Grundlagen nicht herzustellen, da die zu erwartenden Verordnungen den wirtschaftlichen
Intentionen der Herstellerfirmen nicht gerecht werden. In Anbetracht der verhältnismäßig
geringen Zahl von Dermatologen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Ärzte, ist dies
durchaus ein wichtiger Gesichtspunkt für die Industrie. In Zukunft wird
sich diese Schere noch weiter öffnen. Die Entwicklung medizinischer Spezialitäten
wird immer teurer. Auf der anderen Seite wird die Explosion des medizinischen
Wissens immer größer und damit auch der Bedarf an therapeutisch vielfältigen Möglichkeiten
immer umfassender. Man wird also wohl in Zukunft noch mehr damit rechnen müssen,
dass sich die medizinischen Notwendigkeiten zu einem großen Teil nur mit Magistralrezepturen
abdecken lassen werden. Wichtig scheint mir angesichts dieser Lage, dass
die Therapiefreiheit des Hautarztes gesichert und gegen Einflussnahme von interessierter
Seite verteidigt wird. In einer freiheitlichen Gesellschaft mit marktwirtschaftlicher
Ordnung entscheidet und verantwortet der Arzt im Benehmen mit dem Patienten, was
er verordnet. Reimann: Man mag je nach Auslegung
von Effizienz darüber streiten können, ob die Anforderungen an die medizinische
Versorgung wachsen. Bisher sind jedenfalls Lücken zu erkennen, die ohne ergänzende
Rezepturen nicht oder nicht befriedigend zu schließen wären. ?
Wie steht es um die therapeutische und die pharmakologische Qualität der Rezepture?
In welchen Bereichen sehen Sie Probleme? Reinhardt:
Die therapeutische und pharmakologische Qualität der Rezepturen steht und fällt
zumindest mit deren analytischer und galenischer Stabilität. Leider ist die Mehrzahl
der verordneten Rezepturen nach Angabe aller Experten nicht überprüft bezüglich
Konzeption und Herstellungsqualität. In zahlreichen Gesprächen haben niedergelassene
Dermatologen seit Jahren nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die Herstellungsqualität
von Rezepturen in Apotheken starke Unterschiede aufweist. Bekannte Probleme bei
der Konzeption oder Herstellung der Rezepturen sollten nicht einfach "ungelöst"
an die Patienten abgegeben werden. Gloor: Ohne
Zweifel gibt es Probleme bezüglich der pharmazeutischen Qualität von Magistralrezepturen.
Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn individuelle Rezepturen verwendet werden.
Standardisierte Rezepturen sind bezüglich ihrer galenischen Qualität so ausgearbeitet,
dass kaum ein Problem auftreten dürfte. Die Arzneibücher erlauben es dem Apotheker,
die Rezepturen so sicher herzustellen, dass eigentlich keine Herstellungsfehler
vorkommen dürften. Bei der individuellen Magistralrezeptur, die in vielen
Fällen ebenfalls unverzichtbar ist, kann es viel leichter zu einer galenisch minderwertigen
Qualität kommen. Dies gilt dann, wenn keiner Empfehlung gefolgt wird. Werden die
Empfehlungen, die in der Literatur und auch in zahlreichen Rezepturkursen gegeben
werden, beachtet, dürfte jedoch auch dieses Risiko relativ gering sein. Ähnlich
wie bei der Therapie mit Spezialitäten gilt auch für die Therapie mit Magistralrezepturen,
dass das wissenschaftliche Konzept für die Verordnung stimmig sein muss.
Meines Erachtens wird die Problematik der Qualität von Magistralrezepturen jedoch
weit überbetont. Es wird immer wieder mit so kritischen Wirkstoffen wie beispielsweise
Tretinoin argumentiert. Dabei wird verschwiegen, dass andere Wirkstoffe, die unverhältnismäßig
häufiger verordnet werden, beispielsweise Dermatokortikosteroide, in der Magistralrezeptur
nahezu problemlos sind. Sie sind meist problemlos verarbeitbar, zeigen eine gute
Stabilität und eine gute Wirkstofffreigabe. Die für die Rezeptur kritischen
Wirkstoffe, insbesondere Tretinoin, weisen eine relativ seltene Verordnung in
Magistralrezepturen auf. Die bekannt gewordenen Zahlen zeigen, dass die Dermatologen
durchaus mit Bedacht bei der Rezeptur vorgehen. Darüber hinaus ist die
Diskussion über eine schlechte Qualität von tretinoinhaltigen Rezepturen alles
andere als aktuell, da es jetzt drei hervorragende NRF-Rezepturen für Tretinoin
gibt. Reimann: Wirklich bedenkliche Rezepturen
scheinen quantitativ kein besonderes Problem zu sein, wie bereits die bekannte
umfangreiche Studie von Altmeyer und anderen auf der Basis von Daten aus 1995
zeigte. Und seither ist die Diskussion um die individuelle Nutzen/Risiko-Beurteilung
breit geführt worden. Hierbei spielte die Erkenntnis der Apotheker eine
erhebliche Rolle, dass die straf- und haftungsrechtliche Verantwortung für das
Inverkehrbringen bedenklicher bzw. qualitätsgeminderter Rezepturen zunächst einmal
bei ihnen selbst liegt, auch wenn der verordnende Arzt dann als Mittäter zu betrachten
ist. So ist die früher z.T. beobachtete Kompensation durch Rezepturen, nachdem
umstrittene Externa vom Markt genommen wurden, heute nur schwer vorstellbar. Sie
betraf z.B. Sulfonamide, Chloramphenicol, Quecksilber- und Bleiverbindungen oder
Phenol. Es ist sogar die Situation eingetreten, dass Rezepturen kritisch diskutiert
wurden, während analoge Präparate - in Form der nicht zugelassenen Altarzneimittel
- verkehrsfähig waren. Die Identifizierung und Elimination unwirksamer
Rezepturen ist keine kurzfristig lösbare Aufgabe. Da aber Rezepturen nicht kommerziell
beworben werden, ist eine gewisse Selbstregulation des Verordnungsverhaltens aufgrund
klinischer Erfahrungen zu unterstellen. ? Sollten
für magistrale Rezepturen die gleichen Regeln gelten wie für die Zulassung von
Fertigarzneimitteln, beispielsweise hinsichtlich der Kombinationspräparate?
Reinhardt: Arzneimittel ist Arzneimittel, egal ob frisch
hergestellt oder Fertigarzneimittel. Von daher sollten an beide im Prinzip die
gleichen Qualitätsmaßstäbe angelegt werden. Lediglich der Aspekt des alsbaldigen
Verbrauchs ließe gewisse Abstriche bei der Haltbarkeit von Rezepturen zu. § 5
des Arzneimittelgesetzes, wonach es verboten ist, bedenkliche Arzneimittel in
den Verkehr zu bringen, macht keine Unterschiede zwischen Fertigarzneimitteln
und Rezepturen. Die Argumentation, dass nur eine geringe Anzahl an Rezepturen
problematisch sei, ist nicht überzeugend, da bereits 1% davon ca. 100.000 bedenkliche
Verordnungen pro Jahr bedeuten. Unwissenheit über die Qualität der Mehrzahl jener
ca. 10 Millionen Rezepturen pro Jahr ist im Jahre 2000 im Zweifelsfall kein gutes
Argument gegenüber Verbraucherschützern oder aggressiven Patientenanwälten.
Reimann: Im Prinzip gelten bei magistralen Rezepturen
die gleichen Grundsätze hinsichtlich Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit.
Diese werden aber weniger formal verifiziert, als in den Zulassungsunterlagen
gefordert. Pharmakologisch-toxikologisch werden standardisierte Rezepturen, z.B.
im Neuen Rezeptur-Formularium, regelmäßig durch Fachleute zumindest auf Plausibilität
und Vertretbarkeit beurteilt. Bei individuellen Rezepturen gibt es immerhin allgemeine
Empfehlungen, z.B. die prägnante Resolution der Kommission "Magistrale Rezepturen"
der DDG oder die interdisziplinär orientierten Leitlinien zur dermatologischen
Rezeptur der Gesellschaft für Dermopharmazie (GD). In der Fachgruppe
"Magistralrezepturen" der GD ist eine Konkretisierung hinsichtlich Kombinationen
bereits angesprochen worden. Ich kann mir eigentlich keine weitergehende Regelung
von Staats wegen, sondern allenfalls entsprechende Empfehlungen seitens solcher
Fachgesellschaften als Orientierung vorstellen. Im Einzelfall darf der durch die
Deklaration von Helsinki verbürgte Anspruch auf "Compassionate Use", die verantwortungsvolle
Anwendung eines Rezepturarzneimittels als individueller Heilversuch, nicht unzulässig
eingeschränkt werden. Gloor: Bei Spezialitäten
wird jetzt meist gefordert, dass eine Monotherapie durchgeführt wird. Auch bei
der Magistralrezeptur ist es sicherlich richtig, die Wirkstoffkombinationen einzuschränken.
So fordern auch die Richtlinien, die Zahl der Wirkstoffe auf zwei, allenfalls
auf drei zu begrenzen. Dies ist zweifelos richtig, da es Wechselwirkungen zwischen
den jeweiligen Wirkstoffen geben kann. Auf der anderen Seite scheint es mir, dass
auch hier das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Der Dermatologe
kann die Erwartungen des Patienten nicht damit erfüllen, dass er nur Kortikosteroid-Präparate
verordnet. Er muss auch therapeutische Alternativen in die Therapie einbeziehen,
beispielsweise Teerderivate wie Liquor carbonis detergens oder Teerersatzstoffe
wie Schieferölsulfonate. Sie helfen die Dermatokortikosteroide zu sparen und Nebenwirkungen
mit diesen differenten Wirkstoffen zu vermeiden. Dies ist nicht nur der dringliche
Wunsch der Patienten, sondern es ist auch ein sachlich vernünftiger Grund. Auch
müsste hinterfragt werden, woher eigentlich die Annahme kommt, dass es beispielsweise
zwischen Teerderivaten wie Liquor carbonis detergens oder Schieferölsulfonaten
wie Bituminosulfonaten und Dermatokortikosteroiden zu Wechselwirkungen kommt.
Für eine solche Behauptung gibt es meines Wissens keinerlei Anhalt. ?
Ein entscheidendes Schlachtfeld der gegenwärtigen gesundheitspolitischen Debatte
heißt "evidenced based medicine". Brauchen die Dermatologen verstärkt klinische
Studien zur magistralen Rezeptur, um in dieser Debatte bestehen zu können?
Reinhardt: Es gibt nur die Antwort: Ja! Dermatologen,
Apotheker und Industrie arbeiten täglich an Qualitätsverbesserung und Qualitätssicherung
von Diagnostik, Therapie und Dienstleistung. Bis zum Vorliegen ausreichender Nachweise
sollten nur standardisierte und überprüfte Rezepturen verwandt werden. Im Zeitalter
evidenzbasierter Medizin und Qualitätsleitlinien stellt die freie, ungeprüfte
Rezeptur meines Erachtens einen Anachronismus dar. Reimann:
Die Apothekerschaft hat - u.a. mit dem Neuen Rezeptur-Formularium - bereits
Bemerkenswertes zur Sicherung der pharmazeutischen Qualität geleistet. Hier sind
eher die Dermatologen angesprochen. Einige Beispiele gibt es da schon. Schwierig
wird es aber wahrscheinlich gerade bei den für die Rezeptur typischen "therapeutischen
Nischen". Gloor: Es wurden eine Vielzahl von Untersuchungen durchgeführt, um die
Effektivität von Magistralrezepturen nachzuweisen und außerdem lassen sich aus
Untersuchungen über Spezialitäten durchaus auch Rückschlüsse auf die Magistralrezeptur
ziehen, wenn man über das nötige galenische Rüstzeug verfügt. Wir haben dazu im
Detail in einem eben erschienen Buch [1]
die Literatur diskutiert. Es besteht die Gefahr, dass Schlagworte wie
evidenced based medicine zu einer Verarmung der Medizin führen, die der Patient,
der die ärztliche Hilfe auch in schwierigen Fällen notwendig hat, zu einem Nachteil
zu spüren bekommt. Die Dermatologie ist ein Fach, das auch heute noch auf die
individuellen therapeutischen Erfahrungen des einzelnen Arztes zurückgreifen muss,
wenn es optimal dem Patienten hilfreich sein will. Die Vielzahl der dermatologischen
Bilder und Behandlungsstadien erlaubt kein derartig standardisiertes Vorgehen
wie es in anderen Fächern üblich ist und wie es dem Schlagwort evidenced based
medicine entspricht. ? Der jährliche Output
an innovativen Fertigarzneimitteln mit dermatologischer Indikation ist im Vergleich
zu anderen medizinischen Fächern eher gering, der Generika-Markt aber um so größer.
Würde das Interesse der Unternehmen an der Dermatika-Forschung wachsen, wenn der
Anteil der magistralen Rezepturen am Markt deutlich geringer wäre? Reimann:
Ich fürchte nicht. In analogen Situationen, z.B. bei der oralen Schmerzbehandlung
mit Morphin oder der Substitutionstherapie bei Heroinabhängigkeit hat ein vor
Jahren nahezu 100-prozentiger Rezepturanteil die Entwicklung von Fertigarzneimitteln
nicht verhindert. Es hieße wohl, den deutschen Markt völlig zu überschätzen, wenn
man Effekte auf die immer stärker global ausgerichtete Dermatika-Forschung annimmt.
Umgekehrt müsste sich ein Einfluss der Rezeptur eher am Angebot an Generika bemerkbar
machen. Reinhardt: Die Umsätze der topischen Dermatika
gehen seit Jahren zurück im Unterschied zu den Verkaufszahlen der sonstigen Arzneimittel.
Dermatika-Sparten etlicher Firmen wurden verkauft. Das Interesse von Anlegern
an der Dermatologie scheint nicht sehr groß zu sein. Mitentscheidend für die fehlenden
Umsätze und damit für die mangelnde Forschung in Deutschland ist sicher die sehr
hohe Zahl an verordneten Rezepturen. Gloor: Neu
entwickelte Wirkstoffe stehen überhaupt nicht für die Magistralrezeptur zur Verfügung,
sodass sie gerade bezüglich Neuentwicklungen überhaupt keine Konkurrenz darstellt.
Beispielsweise ist nicht einzusehen, wieso eine Entwicklung eines Tacrolimus-Präparates
durch die Magistralrezeptur beeinflusst werden sollte. Eine entsprechende Magistralrezeptur
gibt es nicht, und wenn ein Tacrolimus-Präparat überlegen ist, würde es sicherlich
seinen Markt haben, wobei es überhaupt keine Rolle spielt, dass die Magistralrezeptur
einen großen Raum in der dermatologischen Therapie einnimmt. Im Übrigen ist es
falsch, dass der Anteil von Magistralrezepturen in Deutschland exzessiv hoch wäre.
Es gibt eine Anzahl von Ländern, in denen er sehr viel höher ist und wirtschaftlich
spielen Magistralrezepturen im Verhältnis zum sonstigen Apothekenumsatz fast keine
Rolle. Genehmigung, Quelle, Buchhinweis,
allgemeine Hinweise ¶
Dieses Interview ist mit freundlicher Genehmigung der Urban & Vogel Medien
und Medizin Verlagsgesellschaft auf dieser Homepage der GD-Gesellschaft für
Dermopharmazie e.V. mit dem Originaltext veröffentlicht. Quelle:
Der Deutsche Dermatologe 9 (2000) Seite 596 - 608. Das Interview führte Ralf
B. Blumenthal. Buchhinweis: M. Gloor, K. Thoma,
J. Fluhr: Dermatologische Externatherapie unter besonderer Berücksichtigung der
Magistralrezeptur. Springer-Verlag, Heidelberg 2000 Die Interviewpartner
waren der Karlsruher Hautklinikleiter Prof. Max Gloor, der bei Stiefel Laboratorium
tätige Apotheker Dr. Hans W. Reinhardt und sein Fachkollege Dr. Holger Reimann
vom Neuen Rezeptur-Formularium. Die Interpartner sind Mitglieder der GD-Fachgruppe
Magistralrezepturen und an der Veröffentlichung der einer Leitlinie
" Dermatologische
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