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Gerd Folkers
Paradigmenwechsel
in der Arzneimittelentwicklung Präsident
des Beirats des Collegiums Helveticum der ETH Zürich "Fast
alle wirksamen Arzneimittel stammen aus der belebten Natur oder sind aus ihren
chemischen Strukturen abgeleitet". Diese Behauptung stimmt tatsächlich
und wird auch noch einige Zeit gelten. Dann aber werden die Arzneimittel auf dem
Markt sein, die sich momentan in der Entwicklung befinden und bei welchen die
Entwicklungslinie sozusagen auf den Kopf gestellt wurde. Als Mitte der
Neunziger ein Psychopharmakon als potentieller Inhibitor der HIV-Protease und
damit als mögliches AIDS-Therapeutikum identifiziert wurde, zeigte sich darin
ein in der forschenden pharmzeutischen Industrie bereits weitgehend vollzogener
Wandel im Denkprozess der Arzneimittelentwicklung. Dabei steht als Arzneimittelwirkung
die optimale Erkennung einer auf molekularer Ebene definierten Zielstruktur im
Organismus, in der Regel ein Eiweiss, im Vordergrund. Das Eiweiss selbst ist das
Produkt eines Genfragments, welches mit einem Krankheitsgeschehen korreliert wurde.
Diese "molekulare Vorgehensweise" hat Implikationen und Konsequenzen
für Therapien, Patienten und Märkte. Zweifellos sind die
"Lebenswissenschaften" (Life Sciences) unabdingbar für das Verständnis
von Gesundheit. Letztendlich beeinflusst jede Form therapeutischer Intervention
die Biochemie unseres Organismus. Mit der Ausschüttung kurzer Eiweissfragmente
im Gehirn, die Schmerz stillen, reagiert der Körper ebenso auf den äusseren
Reiz einer Akupunkturnadel, wie er die Einnahme eines ß-Rezeptorenblockers
mit der Absenkung des Blutdrucks beantwortet. Ein Gesprächspartner, der die
richtigen Worte findet, wird ebenso die Gleichgewichtslage unserer Biochemie im
Gehirn beeinflussen, wie ein "life style" Medikament unsere Gefühlslage
"korrigiert". Es ist dabei offenkundig, dass das Individuum
selbst Einfluss auf die Therapie nimmt. In welchem Ausmass, hängt ab von
der genetischen Disposition, vom sozialen Kontext, von persönlichen Ängsten
und Erwartungen. Diese Faktoren und ihre Wirkungsweisen zu untersuchen, hat sich
ein Forschungszweig zur Aufgabe gemacht, der in der Pharmabranche "Functional
Genomics" genannt wird. Die ihm eigenen Technologien werden in allen Unternehmen
der forschenden pharmazeutischen Grossindustrie eingesetzt. Sie dient der Erkennung
von Mustern auf der Ebene der Erbsubstanz und deren Produkte, der Eiweisse (Proteine)
und biologisch wirksamen kurzkettigen Eiweissfragmente (Peptide). Ihr Ziel ist
es, Möglichkeiten zu finden, diese Muster über gezielt entworfene Therapeutika
zu beeinflussen. Die Technologie und die riesigen Datenmengen, die "Functional
Genomics" erst ermöglichen, werden von einem weltweiten Netz von großen
Unternehmen, Forschungsinstituten und kleinen hochspezialisierten Start-up-Companies
erzeugt. Erst die Kombination von Robotisierung, Informationstechnologie und Biotechnologie
hat Functional Genomics realisierbar gemacht. Die technologische Fähigkeit,
individuelle molekulare Muster aufzuzeichnen und auszuwerten hat die Arzneimittelforschung
und -entwicklung grundlegend geändert. Prof.
Dr. Gerd Folkers
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